Ekel und Vagusnerv – Frühwarnsystem mit Spannungsspirale

Ekel visualisiert durch ekelerregende Maden ekelt junge Frau

Ekel ist weit mehr als eine simple Abneigung; er ist ein tief verwurzeltes, mehrschichtiges Frühwarnsystem. Mit der Funktion, uns auf körperlicher, emotionaler und sozialer Ebene zu schützen. Wissenschaftlich wird Ekel als Primäraffekt und Gefühl starken Widerwillens definiert. Die Hauptfunktion liegt in der Vermeidung von Krankheitserregern. Ekel wird dem ‚Immunsystem des Verhaltens‘ zugeordnet. Die Analyse dieser komplexen Emotion enthüllt, dass ihre Unterdrückung – das sogenannte „Runterschlucken“ – psychosomatische Folgen haben kann, die bis in die Regulation unserer Lebenskraft reichen.

Ekel – Evolutionär entwickelt, doch außer Kontrolle

Definition und Funktion des Ekels

Die evolutionäre Wurzel des Ekels: Er dient dem Überleben. Ekelreaktionen sollen verhindern, dass wir Schädliches aufnehmen. Oder, falls bereits geschehen, dabei helfen, es durch Erbrechen wieder loszuwerden. Die Schutzfunktion zielt vor allem auf die Abwehr von Pathogenen und Parasiten ab.

Dennoch reicht die Tragweite des Ekels weit über die reine Nahrungsbezogenheit hinaus. Aktuelle psychologische Definitionen erwähnen, dass Ekel auch über die Sinne Tasten, Riechen, Sehen und Hören ausgelöst wird. Und sogar als soziales und moralisches Gefühl fungiert.

Von besonderer Bedeutung ist die existenzielle Dimension des Ekels: Psychologische Ansätze sehen ihn als eine Abwehr gegen universelle Ängste, insbesondere die Todesangst. Durch die Ekelreaktion versucht der Mensch, sich von allem zu distanzieren, was ihn an seine animalische Natur erinnert. Zum Beispiel Körperfunktionen, Verwesung und Endlichkeit. Wird diese existenzielle Integrität durch traumatische Erfahrungen zutiefst verletzt (beispielsweise durch sexuelle Gewalt), dient die übermäßige Ekelreaktion nicht nur der Abwehr der Handlung selbst. Es ist auch ein Versuch, die Erinnerung an die erlebte Kontamination und existenzielle Bedrohung zu verdrängen. Die Folge ist oft eine radikale Abspeicherung und Blockade dieses unerträglichen Affekts.

Ekel: Die kulturelle und erfahrungsbasierte Prägung

Die Vorstellung, Ekel sei vollständig angeboren, ist unzutreffend. Ein Baby oder Kleinkind steckt sich zunächst noch alles in den Mund. Die Anlage zum Ekel ist zwar vorhanden, doch die genaue Ausprägung dessen, was als widerlich empfunden wird, ist kulturell und durch individuelle Erfahrungen erlernt und geprägt.

Psychologisch wird Ekel daher als eine „Verbindungslinie zwischen Körper und Kultur“ und als „Wegweiser“ verstanden. Diese kulturelle und erfahrungsbasierte Prägung ist in der Regel hilfreich. Denn sie erlaubt, auf veränderliche Infektionsrisiken in unserer Umgebung zu reagieren. Leider kann die starke Verknüpfung mit traumatischen Erfahrungen dazu führen, dass Ekelgefühle überzogen oder dysfunktional werden.

Neurophysiologie des Widerwillens – Vagusnerv in Aktion

Ekel im limbischen System und der Würgereiz

Ekel wird wissenschaftlich als Affekt klassifiziert, dessen Reflex im limbischen System verortet ist. Der Nervus Vagus ist der zentrale Akteur, der auch als „ausführender Meister des Ekels“ agiert.

Vagusnerv und Bitterstoffe: Das evolutionäre Gefahrensignal

Illustration Gehirn Nervenaustritt Vagusnerv

Ein faszinierender Aspekt der Ekelphysiologie betrifft die Geschmackswahrnehmung. Denn der Hauptnerv des parasympathischen Anteil des autonomen Nervensystems, der Vagusnerv (Nervus X), ist nicht nur für Verdauung, Erholung und Selbstheilung zuständig. Sondern hat auch andere Funktionen. Er bildet eine hochsensible Kommunikationsautobahn zwischen den Eingeweiden und dem Gehirn. Er hat den wichtigen sensorischen Nebenjob, Informationen (viszerale Afferenzen) aus dem Körper und den Organen aufzunehmen und zum Gehirn zurückzumelden. Unter anderem: Geschmackswahrnehmung. Insbesondere für Bitterstoffe, im hinteren Zungen- und Rachenbereich.

Historisch und evolutionär war der bittere Geschmack oft gleichbedeutend mit Gift oder Gefahr. Die primäre, durch den Vagus vermittelte Reaktion war daher die Ablehnung oder das Auslösen des Würgereizes. Dies führt zu einem zivilisatorischen Konflikt: Da der bittere Geschmack so eng mit Gefahr assoziiert wird, wurden Bitterstoffe im Laufe der Züchtung aus vielen modernen Lebensmitteln herausgezüchtet. Trauriges Beispiel: Chicoree. Obwohl Bitterstoffe aus gesundheitlicher Sicht heute sehr wünschenswert wären. Sie fördern die Verdauung, tonisieren den gesamten Magen-Darm-Trakt, unterstützen die Leberfunktion und die Entgiftung des Körpers.

Der ehrenhafte Kampf, Bitterstoffe heute aus gesundheitlichen Gründen wieder in die Ernährung zu integrieren, verdeutlicht eins: Nämlich, wie tief der Vagusnerv in unser frühes Überleben verankert ist. Und wie schwierig es ist, diesen archaischen Reflex kognitiv zu überschreiben.

Der abstoßende Reiz: Brechreiz

Die neurologische Steuerung des Ekel-assoziierten Ausstoßungsreflexes ist hochkomplex. Das Brechzentrum im Gehirn erhält Informationen aus verschiedenen Quellen: von der Großhirnrinde, die Empfindungen wie Ekel übermittelt; vom Gleichgewichtsorgan; und vom Nervus Vagus, der Informationen über den Zustand des Gastrointestinaltrakts liefert.

Der Vagusnerv sorgt dann motorisch für die Auslösung des Würgereizes, der uns schützt, indem er Gifte und unzuträgliche Substanzen auswirkt.

Die neurophysiologische Dynamik der Verdrängung von Ekel

Die Dynamik des Ekels offenbart einen kritischen Konflikt innerhalb der Vagusaktivität: Wenn Ekel erfolgreich unterdrückt wird (indem beispielsweise das Auslösen des Würgereizes blockiert wird), verbleibt die Quelle des Ekels – die traumatische oder toxische Situation oder Erinnerung – symbolisch oder physisch im System. Zusätzlich senden die sensiblen Fasern des Vagus weiterhin Signale des chronischen Unwohlseins von den Eingeweiden an das Gehirn.

Die Folge ist, dass die unterdrückte Emotion nicht verschwindet, sondern sich in Form chronischen Unbehagens manifestiert. Der Körper signalisiert ständig eine innere Kontamination, Verschmutzung, was zu einer langanhaltenden Belastung führt. Dies kann die die parasympathische Funktion des Vagusnervs stark beeinträchtigen: Er kann nicht mehr sein bestes geben, nämlich: Gegenspieler zu dem Kampf- oder Flucht-Modus des Sympathikus sein. Das heißt: Autonom Verdauung, Erholung und Selbstheilung ermöglichen.

Ekel runterschlucken: Der psychosomatische Preis

Die psychologische Dynamik des Verdrängens

Hochsensible und Menschen, die ihre Pflicht und die Bedürfnisse anderer über ihr eigenes Wohl stellen, neigen dazu, Widerwillen und Ekelgefühle herunterzuschlucken. Sie drücken diese Emotionen oft nicht aus, bemerken sie manchmal nicht einmal. Manche verwenden Abwehrmechanismen wie Humor oder Sarkasmus, um die emotionale Intensität des Ekels zu entschärfen und auf eine scheinbar weniger bedrohliche Ebene zu verschieben.

Dieses bewusste oder unbewusste Runterschlucken ist eine Konfliktvermeidungsstrategie. Sie führt jedoch innerlich zur Internalisierung des Ekels. Das nicht Ausgedrückte setzt sich im Körper fest und führt zu einer inneren Spannungsspirale, die weitreichende Konsequenzen für die psychische Gesundheit haben kann.

Die Segmentpanzerung nach Wilhelm Reich

Die Körperpsychotherapie, deren Grundlagen auf den Arbeiten von Wilhelm Reich (Vegetotherapie) basieren, erklärt, dass unausgedrückte Affekte sich als chronische Muskelspannung festsetzen. Das nannte Reich Charakterpanzer.

Diese Blockaden führen zu unnötigem Energieverbrauch. Was wiederum den Organismus psychisch und somatisch schwächt.

Gerade beim geschluckten Ekel sind nach diesem Modell insbesondere zwei Segmente betroffen: das Halssegment und das Zwerchfellsegment. Im Hals setzt sich die unterdrückte Fähigkeit fest, „Nein“ zu sagen, Wut auszuschreien oder Widerwillen zu artikulieren.

Das Zwerchfellsegment kann wiederum zentrale Affekte wie Angst und Ekel blockieren.

Die mechanische Fixierung der Lebenskraft

Die chronische Spannung des Zwerchfells hat besonders lähmende Folgen: Sie sorgt für eine nur oberflächliche Atmung und reduziert dadurch die allgemeine Lebenskraft. Darüber hinaus wird die körperliche Fixierung zur neurophysiologischen Einschränkung der Selbstheilung. Da der Vagusnerv das Zwerchfell durchquert, kann eine chronische Spannung oder Steifheit des Diaphragmas die normale Funktion des Vagusnervs negativ beeinflussen. Was wiederum seine parasympathische, entspannende Wirkung reduziert.

Die physische Blockade im Zwerchfell dient somit als psychischer Speicher für unverarbeitete Emotionen.

Ekel, Trauma und Essstörungen

Die Relevanz des Ekels zeigt sich besonders deutlich in der Psychotraumatologie. Komplextraumatisierte und dissoziative Patient:innen berichten häufig und intensiv von Ekelsymptomen. Zusätzlich haben sie Schwierigkeiten, diese zu überwinden.

Besonders Ekelerinnerungen, die im Kontext von sexueller Gewalt oder Missbrauch in der Familie entstehen, sind tief verankert und schwer abbaubar. Diese verdeckten Ekelsymptome treten oft in Kombination mit Ängsten, Aggressionen und Scham auf. Die innere Spannungsspirale des Ekels kann sich auch in Essstörungen manifestieren. So besteht eine signifikante Korrelation zwischen einer erhöhten Ekelempfindlichkeit und essgestörtem Verhalten, insbesondere der Bulimie (Ess-Brech-Sucht).

In der Bulimie wird das Erbrechen, das physiologisch ein Schutzreflex des Vagusnervs zur Ausstoßung von Gift ist, pathologisch wiederholt. Es stellt den verzweifelten Versuch dar, eine innere „Kontamination“ – sei es durch die Fressattacke oder die dahinterliegende psychische Belastung – zu kontrollieren. Dieser Mechanismus führt zu massiven gesundheitlichen Schäden wie Zahnschäden und Herzrhythmusstörungen.

Befreiung und Integration – Therapeutische Wege

Die Arbeit mit überzogenen, dominanten oder unterdrückten Ekelgefühlen erfordert einen integrativen, multimodal geprägten Ansatz.

Die somatische Befreiung: Arbeit an Hals und Zwerchfell

Die Bearbeitung beginnt auf der rein körperlichen Ebene. Indem die betroffene Person lernt, den Ekel dort zu spüren, wo er sich festgesetzt hat. Die Lösung der körperlichen Blockaden ist eine Voraussetzung, um überhaupt die Kapazität zur emotionalen Verarbeitung zu gewinnen. Osteopathische Techniken sind hierbei von zentraler Bedeutung, da sie gezielt das Zwerchfell bearbeiten, entspannen und befreien können. Die Einbeziehung des Zwerchfells ist notwendig für eine ganzheitliche Behandlung von Problematiken im Nacken- und Rückenbereich.

Spezifische Atemübungen, die das Zwerchfell beweglicher machen, verbessern die gesamte innere Gesundheit.

Die körperliche Lockerung verbessert unmittelbar die Vagusaktivität und stärkt somit die parasympathische Erholungskapazität des Körpers.

Die emotionale Auflösung: Körperpsychotherapie und Traumaarbeit

Emotional geht es darum, die unterdrückten Gefühle, die sich unter dem Ekel verborgen haben, und die dahinterstehenden traumatischen Ereignisse zu erkennen. Aufgrund der Intensität des Ekels ist ein sicherer therapeutischer Rahmen essenziell; die Annäherung an das Gefühl muss langsam und schrittweise erfolgen.

Die Integrative Körperpsychotherapie nach Jack Lee Rosenberg bietet hierfür die notwendigen Werkzeuge. Denn Ekel ist ein archaischer, somatisch manifestierter Affekt, der bei Trauma tief im körperlichen Gedächtnis gespeichert wird. Deshalb sind kognitive Einsichten allein zur Auflösung oft nicht ausreichend. Integrative Übungen stellen die Verbindung zwischen den körperlichen Empfindungen und den emotionalen Reaktionen wieder her.

Hierbei können körperliche und emotionale Handlungssettings wirksamer sein als reine Gesprächs- oder Imaginationstechniken. Denn so kann in sicherem Rahmen mit der im Körperpanzer gespeicherten Energie gearbeitet und Blockaden aufgelöst werden.

Kognitive Neubewertung und Selbstschutz

Die kognitive Ebene dient der Gegenwarts- und Zukunftsorientierung. Ziel ist es, schädliche Situationen rechtzeitig und besser zu erkennen und gesunde Grenzen zu setzen und zu schützen. Coaching und kognitive Arbeit unterstützen die Entwicklung einer besseren Selbstkenntnis, die im Einklang mit den körperlichen Warnsignalen steht.

Fazit

Die Unterdrückung von Ekel, oft aus Sensibilität oder Pflichtgefühl, führt zu einer inneren Blockade, die sich physiologisch als Zwerchfell- und Halssegmentpanzerung manifestiert. Diese somatische Fixierung reduziert die Lebenskraft und beeinträchtigt die parasympathische Entspannungsfähigkeit des Vagusnervs. Die Auflösung dieser Spannungsspirale erfordert einen integrativen Ansatz, der die körperliche Lockerung (etwa durch Osteopathie und gezielte Entspannungsübungen) mit der emotionalen Verarbeitung unverarbeiteter und traumatischer Ereignisse (durch Körperpsychotherapie) kombiniert.

Den eigenen Körper besser kennenzulernen und professionelle Unterstützung (Osteopathie, Körperpsychotherapie, Coaching) in Anspruch zu nehmen, erweitert das Wohlbefinden und stellt eine bessere Balance zwischen Schutzmechanismen und Gesundheit her.

Einen Termin für Osteopathie in Berlin findest du hier: https://www.doctolib.de/osteopath/berlin/susanne-hake

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Susanne Hake

Praxis für Osteopathie,

Körperpsychotherapie

und Coaching

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Foto: dpa.com/Silas.Stein

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