Eigene Verletzlichkeit öffentlich zeigen?

Die Wahl, ob weinen oder nicht. Mit Bildern von 2 Frauen dazu. Und eine dritte Frau reagiert

Einerseits scheint es ja schon klar zu sein: überall hört man, man solle sich zeigen, sich öffnen, sich authentisch geben – mit allem, was dazugehört. Schwächen, Zweifel, Ängste, Tränen. Ja, das kann berührend sein, ehrlich, menschlich. Und privat ist das auch völlig okay.

Weine privat, wenn dir danach ist, solange du nicht gerade versuchst, andere mit deiner Offenheit zu manipulieren. Tränen, solange nicht chronisches Weinen, können ja sogar gesund sein. 1 2

Aber beruflich weinen? In der Öffentlichkeit? Auf einer Bühne, in einem Meeting, im Pitch?

Ich frag mich manchmal, ob das nicht auch eine Mode ist. Diese radikale Ehrlichkeit, dieses „Ich zeig dir alles, was mich je verletzt hat“-Ding. Ist das wirklich so hilfreich – eher ein bisschen übergriffig? Und bin ich einfach nur überempfindlich?

Ich bin nämlich, ganz ehrlich, selber – als Susanne – manchmal eine kleine Heulsuse. Wenn mich etwas berührt, wenn eine Geschichte mir wirklich nahegeht, dann kommen mir die Tränen. Und ich werde dir gleich erzählen, wie genau das in einem bestimmten Moment sogar ein unerwarteter Türöffner war. Aber davor lass uns mal anschauen, was für und was gegen das Zeigen von Verletzlichkeit spricht.

PRO: Warum es stark ist, sich verletzlich zu zeigen

  1. Du wirst nahbarer. Kaum jemand mag Blender:innen. Wenn du nur damit glänzt, was du alles erreicht hast, wenn dein Leben ein einziges Hochglanz-Picknick zu sein scheint – dann baust du Distanz auf. Wenn du aber auch mal durchblicken lässt, dass nicht alles perfekt läuft oder lief, dann entsteht Nähe. Und Nähe schafft Vertrauen.
  2. Emotion schlägt Argument. Eine persönliche Geschichte, in der du einen inneren Konflikt zeigst – und wie du da rausgekommen bist –, bleibt viel länger im Kopf als jede Statistik. Vorausgesetzt, die Geschichte hat mit dem Thema zu tun und dient deinem Punkt.
  3. Deine Narben zeigen deine Erfahrung. Wie sagt man so schön? „Sprich über deine Narben, nicht über deine offenen Wunden.“ Wenn du zeigen kannst, dass du etwas durchlebt und überlebt hast – wow. Das macht Eindruck. Du wirst als erfahren, reflektiert und resilient wahrgenommen.
Check zum Thema Weinen mit weinender Frau und schockierter Frau

KONTRA: Warum man manchmal besser den Mund hält

  1. Der Rahmen ist entscheidend. Öffentliche Kommunikation ist keine Therapie. Wenn du in einem Business-Meeting plötzlich weinst, weil dich eine Erinnerung überrollt – kann passieren, ja. Aber es wird nicht immer als Stärke wahrgenommen. Manche, vor allem so Mancher, wird dich für schwach halten, für unprofessionell.
  2. Nicht jede Bühne ist eine Einladung zur Offenbarung. Öffentlichkeit kann ein Haifischbecken sein. Auch (und gerade) wenn alle so tun, als sei alles offen und basisdemokratisch divers: Es gibt unausgesprochene Codes. Und je hierarchischer das Setting, desto enger wird der Spielraum.
  3. Du riskierst, nicht mehr gehört zu werden. Wenn du zu sehr in dein eigenes Thema abtauchst, kann es sein, dass die Leute nur noch dein Drama sehen – und nicht mehr deine Botschaft. Du wirkst wie ein Therapiefall. Und selbst wenn du etwas Wichtiges sagst – es geht unter in deinem Schmerz.

Als Tränen mir einmal, im Studium, geholfen haben

Okay, Zeit für die Geschichte, die ich dir versprochen habe.

Damals war ich Studentin an der University of Southern California, an der Filmschule in Los Angeles. Wir hatten eine Lehrerin, Nina Foch – eine legendäre Hollywood-Schauspielerin. Elegante Erscheinung. Scharfer Verstand. Sie gab das Seminar „Directing the Actor“. In der ersten Stunde sollten wir eine Übung machen, die hieß Hot Object. Jede*r musste ein Objekt mitbringen und dazu eine Geschichte erzählen.

Ich brachte ein kleines Stoffhäschen. Beige. Plüsch. Glasaugen in Bernstein. Und dann erzählte ich: Ich war bei Freunden zu Besuch, mein Drucker war kaputt, ich durfte bei ihnen etwas ausdrucken. Da kam das Patenkind meines Freundes rein, zeigte mir stolz sein Taschenmesser, sagte: „Das hat mir Jakob geschenkt.“ Und ich sagte – nicht ganz ernst gemeint – „Ach, ich bekomme nie was geschenkt, ich muss immer arbeiten.“

Zehn Minuten später kam er zurück. Mit dem Häschen. Und sagte: „Das schenke ich dir.“

Während ich das erzählte, kämpfte ich mit meinen Emotionen. Auch wenn ich diese Geschichte heute (wie im aktuellen Video) erzähle, hält das noch an. Selbst wenn ich drüber schreibe. Unverheilt.

Nina Foch schaute mich an, wendete sich an die Klasse und sagte: “This is very expensive stuff.“ Danach kam ich in Fortgeschrittenenklasse.

Was nehme ich daraus mit?

Dass Verletzlichkeit nicht heißt, sich auszuschütten. Sondern sich zu zeigen – in ausgewählten Momenten. Dass eine gut platzierte Geschichte Türen öffnen kann. Und dass Tränen – wenn sie ehrlich sind – berühren.

Doch der Kontext entscheidet.

Wenn du merkst, dass du noch mitten in der Geschichte steckst, wenn die Wunde noch offen ist, dann erzähl lieber etwas anderes. Etwas Leichteres. Etwas mit Humor. Etwas, das dein Publikum unterhält – und dich gleichzeitig glaubwürdig macht.

Denn darum geht’s am Ende: Dass du deine Geschichte so erzählst, dass sie Sinn macht – für dich und für die, die dir zuhören.

Fazit

Zeige dich. Aber mit Bedacht. Verwandle deine Geschichten in Werkzeuge – nicht in Fallstricke. Und ja, wenn dir mal die Tränen kommen – dann sei sanft mit dir. Leg es nicht darauf an.

Du bist mehr als deine Verletzlichkeit. Du bist auch deine Klarheit, deine Stärke, deine Haltung.

Und die – die überzeugt ebenfalls.

Fußnoten

  1. Frey, W. H., Desota-Johnson, D., Hoffman, C., & McCall, J. T. (1981). Effect of stimulus on the chemical composition of human tears. American Journal of Ophthalmology, 92(4), 559–567. ↩
  2. Vingerhoets, A. J., & Bylsma, L. M. (2016). The Riddle of Human Emotional Crying: A Challenge for Emotion Researchers. Emotion Review, 8(3), 207–217. ↩

Susanne Hake

Praxis für Osteopathie,

Körperpsychotherapie

und Coaching

Susanne-Hake-Kopf-und-Torso-vor-Himmel-als-Hintergrund

Foto: dpa.com/Silas.Stein

Entspannter leistungsfähig:

Das könnte dich auch interessieren

Wo ist die Seele?

Wo ist die Seele?

Erklärungen aus Wissenschaft, Religionen und Körperpsychotherapie Weisst du, wo sich deine Seele...