„Meine Nerven!“ Häufig werden diese Worte als Kürzel für ein überreiztes Nervensystem abgetan. Doch was bedeutet das? Selbst die medizinische Diagnose ‚Vegetative Dysfunktion‘, in die sich so viel Unterschiedliches einordnen ließ, gibt es so nicht mehr. Warum sich also als Unternehmer oder Unternehmerin überhaupt damit beschäftigen? Weil Nerven systemisch funktionieren, Einfluss auf das Denken, damit letztlich auf die Produktivität, haben. Außerdem kann das Nervensystem systematisch gestärkt werden.
Immerhin setzte die historische Diagnose ‚vegetative Dysfunktion‘ schon eine Nerven-Aufteilung in zwei Systeme voraus: Das vegetative Nervensystem und das somatische Nervensystem. Die Unterscheidung: In dem einen laufen die Prozesse unwillkürlich, in dem anderen willkürlich, also vom Bewusstsein gesteuert.
Vegetativum – Unwillkür-System in Überzahl
Und so viel ist unwillkürlich: Die Verdauung, die Atmung, der Herzrhythmus, bei dem man mit muss. Auf mehr oder weniger geheimnisvolle Weise verbunden mit dem, was wir, größtenteils sogar vor uns selbst versteckt, fühlen und denken.
Nervensystem stärken für den Poly-Klopper
Jetzt kommt’s: Parallel zum Eisberg-Modell, bei dem ja auch davon ausgegangen wird, dass nur ein Bruchteil sichtbar, heißt: bewusst, ist, stellte Dr. Stephen Porges 1994 seine Polyvagal-Theorie vor.
Nicht unumstritten. Doch auch über Polyester, das ja inzwischen angeblich aus alten Plastikflaschen recycelt werden kann, und Polyamorie, doch eher eine Geschmacksfrage, wird ja gerne gestritten.
Polyvagal-Theorie als inspirierendes Modell
Im Mittelpunkt steht der wichtigste Nerv des parasympathischen Nervensystems. Der Nervus Vagus. Wenn viele den Parasympathicus bislang lediglich als Gegenspieler des Sympathicus kannten – Verdauung und Erholung gegen Kampf oder Flucht – gibt Dr. Porges dem Vagus zwei zusätzliche Funktionen. Diese haben sich, nach seiner Theorie, im Laufe der Jahrtausende entwickelt.
Nervensystem stärken – Die Hierarchie der Nervenstärke
In der von Porges beschriebenen Entwicklung der vagalen System steht das antagonistische System im Mittelfeld der Entwicklung. Der Aufbau von unten nach oben gestaltet sich so:
Das primitivste vagale System
Der Totstell-Reflex stellt die unterste Entwicklungsstufe dar. Die völlige Hilflosigkeit. Im Tierreich durchaus hilfreich. Denn so mancher Antilope hat die Ohnmacht, der simulierte Tod, schon das Leben gerettet.
Hier gelingt es dem Vagusnerv, genauer: dem hinteren Anteil dieses Nervs, die Vitalität nahezu völlig runterzufahren. Doch: Die Bradykardie (verlangsamter Herzschlag) kann tatsächlich lebensgefährlich wirken.
Eine interessante Parallele: In der positiven Psychologie wird ja Depression auch mit erlernte Hilflosigkeit definiert. Für Unternehmerinnen und Unternehmer auf Dauer keine wirksame Handlungsstrategie. Doch in extremen Einzelfällen vielleicht vorübergehend notwendig?
Mittleres Management des vagalen Systems
Hier ist das oben erwähnte Kampf-Flucht-Verdauung-Erholungs-System zuhause. Sicher entwickelter als der simulierte Tod. Doch das genau dieses System ist es auch, dass, Sympathicus-betont zumindest, besonders viel Energie fordert. Angefeuert durch Adrenalin und Stresshormone kommen Körper und Seele schnell an und über die gesunde Belastungsgrenze. Und, apropos Geist: Die Intelligenz sinkt bei sympathicotoner Erregung in Kombination mit Adrenalin, da der frontale Stirnlappen des Gehirns, Sitz des Verstandes, gedrosselt wird.
Am höchsten ausgereift: Das vagale Kooperationssystem
Laut Porges ist dieses System, das er als ‚Soziales Engagement System‘ bezeichnet, den Säugetieren vorbehalten. Es basiert auf dem vorderen, myelin-umhüllten Anteil des Vagusnervs. Dieser Nerv-Anteil kooperiert einerseits mit anderen Hirnnerven, darunter Gesichtsnerven, und andererseits auch mit dem hinteren Anteil des Nervs. Denn Immobilität spielt hier, wie beim Totstellen, eine Rolle. Unter anderen Vorzeichen: Sich sicher fühlen in der Anwesenheit anderer. Nähe nicht nur aushalten zu können, sondern auch zu schätzen, sich auszutauschen, gemeinsam Energie aufzubauen.
Hier, auf dieser Ebene des Nervensystems, ist Blickkontakt, Mimik, Berührung gefragt. Vertrauen wird aufgebaut. Eine belastbare Beziehung entsteht. Das Hormon, das hier ausgeschüttet wird, ist das Bindungshormon Oxytocin.
Nicht unbedingt das, was wir als Stressreaktion bezeichnen würden. Oder doch?
Die Paralle zur Tend-and-befriend-Reaktion
Im Jahr 2000 erschien der Artikel zu dieser besonderen Stressreaktion, der dem ganzen Vagus-Geschehen die Gender-Krone aufsetzt: Bioverhaltens-Rückmeldung bei Frauen: Kümmern-und-Anschließen statt Kämpfen-oder-Flüchten
Sicher sind Kooperationen auch und gerade im Wirtschaftsleben sinnvoller als blind wütende Dauerstress-Konkurrenz und hilfloses Totstellen.
Netzwerken gilt als weiblich. Östrogen scheint die Oxytocin-Ausschüttung als Stressreaktion zu stärken, Androgene hingegen scheint sie zu drosseln.
Fazit: Nervensystem stärken durch bewusste Wahl
Wie schon erwähnt: Die Polyvagal-Theorie ist nicht so stabil wissenschaftlich gesichert wie zum Beispiel Einsteins Gravitationswellen. Und die Gender-Komponente der Tend-und-Befriend-Reaktions-Theorie ist ebenfalls in der Diskusssion. Zumal sie die kuschelige Utopie glückseliger Zusammenarbeit ja auch die Kehrseite hat, dass verstärkte Nettigkeit unter erhöhtem Stress ja auch zum Erhalt nicht hilfreicher oder gar schädigender Beziehungen führen kann. Meiner Meinung nach schwingt da auch die Theorie der Identifikation mit dem Aggressor mit. Auch bekannt als das Stockholm-Syndrom. Und dafür sind Frauen dann vielleicht tatsächlich anfälliger? Ich gebe zu: ich weiß es nicht. Aus meiner Sicht haben Männer und Frauen jeweils weibliche und männliche Anteile. Jede Jeck:in ist anders. Kurz: Mehr Forschung ist erforderlich.
Positiv an diesen Überlegungen zu den Nervensystemen, bei aller Unausgereiftheit: Überhaupt deren Existenz erwogen zu haben, mit dem polyvagalen Gedanken und entsprechenden Gefühlen gespielt zu haben, kann hilfreich sein. Wenn du als Unternehmerin oder Unternehmer das nächste Mal unter Stress kommst, könnte die Wahl bewusster sein:
Mit welchem Nervensystem möchtest du diesmal reagieren?
Ist Kooperation sinnvoll und möglich?
Besteht wirklich Gefahr, die nur durch Kampf oder Flucht gelöst werden kann?
Oder ist Totstellen dran? Auch wenn das heute vielleicht nur heißt, das Handy abzustellen und für ein paar Tage nicht erreichbar zu sein. Doch auf Dauer natürlich keine Lösung.
Denn zumindest mittelfristig gilt: Mehr Mut ist erforderlich.
* Zu Sciencia58: Eigenes Werk, Neuzeichnung nach Campbell und Reece: Biologie, Auflage 2003, Abbildung 48.18, Seite 1244soll File:Das vegetative Nervensystem.jpg ersetzen, CC BY-SA 3.0,